Totensonntag 2025
Hiob 14
Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe.
Er geht auf wie eine Blume und fällt. Er flieht wie ein Schatten und bleibt nicht.
Doch richtest du, Herr, dein Augenmerk auf ihn und ziehst ihn vor Gericht.
Gibt es denn einen ganz und gar reinen, unschuldigen Menschen? Nicht einen!
Seine Tage sind gezählt. Seine Jahre sind begrenzt. Seinem Leben hast du ein Ziel gesetzt, dem er nicht ausweichen kann.
Herr, wende doch deine Augen ab von diesem Menschen!
Er möge Ruhe haben, bis sein Erlösungstag kommt, auf den er sich wie ein Tagelöhner freut!
Der Mensch lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe. Was würde Hiob sagen, wenn er unser Leben sähe?
Es sieht ganz anders aus, und uns von der allgemeinen Lebenserwartung her wesentlich mehr Jahre gegeben.
Aber voll Unruhe sind wir immer noch - ja wir sind es noch viel mehr!
Zu Hiobs Zeiten gab es Sonnenuhren bzw waren Sonne, Mond und Sterne die Uhr. Mehr hatte man nicht, mehr brauchte man nicht. Unsere näheren Vorfahren hatten natürlich schon „richtige“ Uhren – wie viele werden es im Haus gewesen sein?
Eine Standuhr, eine Armband- oder Taschenuhr, ein Wecker vielleicht noch.
Ansonsten: Der Hahnenschrei. Das Glockengeläut. Die Kirchturmuhr. Sonne, Mond und Sterne …
Heute kann, wer will, die Wohnung mit allen möglichen Uhren tapezieren - in Telefonen und Computern, im Radio und im Fernseher, in der Mikrowelle und im Auto - Anzeigen, Monitore, Displays überall. Wir sind inzwischen daran gewöhnt, doch zunehmend auch innerlich abhängig davon. Und die Zeit ist ja ein knappes Gut - obwohl all die Technik doch Zeit einsparen und diese eingesparte Zeit uns zur Verfügung stellen sollte. Damit wir mehr Zeit haben …
Beim Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. wurde für den Bau einer Eisenbahnlinie von Berlin nach Potsdam geworben:
„Majestät können drei Stunden eher in Potsdam sein!“ – Seine Antwort: „Was will ich denn drei Stunden eher in Potsdam!“
Verhindern konnte er die Eisenbahn nicht, aber seine Skepsis war nicht unbegründet.
Irgendetwas scheint grundlegend schiefgelaufen oder falsch kalkuliert worden zu sein.
Zeit wird eingespart, aber mehr haben wir am Ende trotzdem nicht - im Gegenteil: Jede Minute, jede Sekunde zählt …
Wir sind in wenigen Stunden in München oder Berlin, bei guter Organisation innerhalb eines Tages auf anderen Kontinenten - früher hätte es Tage, Wochen, Monate gedauert. Mit der ganzen Welt können wir sofort in Verbindung treten (sofern das Netz funktioniert). Und oft haben wir das Gefühl, wir müssten es dann auch sofort tun. Was soll der andere sonst denken!
Doch man kann nicht ständig agieren und reagieren. Man kann sich nicht um alles kümmern.
Man kommt ja kaum noch zu sich selbst. Ein Mensch lebt sein Leben, er geht seinen Weg -
und er ist voll Unruhe, vielleicht mehr denn je …
Doch wiederum ist er auch immer schon voll Unruhe gewesen, auch ohne Bildschirme und Digitalanzeigen.
Seit Hiob, seit Abraham, seit Adam und Eva scheint es in ihm angelegt zu sein, diese Unruhe, die unser Herz erfüllt -
bis dieses Herz Ruhe findet in dir, o Gott, wie der Kirchenvater Augustinus schreibt …
Wir sind nur Gast auf Erden - unterwegs in Richtung Ewigkeit, hin zum Licht des Jüngsten Gerichts, des Offenbar-Werdens, der Gottesbegegnung - diese Ahnung kann schon mit widerstreitenden Gefühlen einhergehen und eine ganz eigene Art von Unruhe hervorrufen (wenn wir die Dimension „Ewigkeit“ nicht ganz verdrängt und vergessen haben).
Schon Hiob, dem tragischen Bibelhelden ging es so: Herr, sei gnädig, sei nicht zu gerecht, urteile nicht, schau weg -
laß die liebe Seele Ruhe haben und essen und trinken und fröhlich sein - wer weiß, wie lange noch …
Aber nein, der Himmel nimmt den Menschen zu wichtig und erachtet ihn als zu wertvoll, um ihn einfach seiner menschlich-allzu menschlichen Trägheit und Schwäche zu überlassen.
Erneure mich, o ewigs Licht / und lass von deinem Angesicht
mein Herz und Seel mit deinem Schein / durchleuchtet und erfüllet sein.
Und deshalb hat die Unruhe des heiligen Augustinus ihren Sinn.
Diese besondere, diese geistliche, spirituelle Unruhe ist heilsam.
Sie deutet darauf hin, daß wir nach Heilung suchen sollten, nach dem Heil,
das wir auf die eine oder andere Weise alle nötig haben.
Deshalb ist der Heiland zu uns gekommen, in unsere oft seelenlose Unrast, unseren oft gottlosen Stress.
Er kommt uns entgegen im Advent, zu Weihnachten, damit der Weg zum Heil nicht gar zu weit ist.
Der allmächtige und barmherzige Gott blickt uns an im Heiland, in Jesus Christus.
Das kann schon in Unruhe versetzen.
Aber in eine heilsame Unruhe. Richter und Retter - der Herr blickt uns an,
mit einem Blick der Erkenntnis, doch vor allem mit einem Blick der Gnade.
Lassen wir diesen Blick, dieses Licht, diesen Glanz in uns wirksam sein.
Nehmen wir diese Gnade für uns an.
Du kannst nicht tiefer fallen als nur in Gottes Hand,
die er zum Heil uns allen barmherzig ausgespannt.
Es münden alle Pfade durch Schicksal, Schuld und Tod
doch ein in Gottes Gnade trotz aller unsrer Not.
Wir sind von Gott umgeben auch hier in Raum und Zeit
und werden in ihm leben und sein in Ewigkeit. Amen
